35-Stunden-Woche: weniger Lohn und mehr Arbeit

(in English)

In einer kollektiven Arbeitszeitverkürzung sehen viele ein wirksames Mittel, um den Irrsinn des heutigen Kapitalismus zu bekämpfen, der auf der einen Seite Millionen von Arbeitslosen produziert, auf der anderen Seite die Arbeitenden zu Überstunden zwingt. Die Forderung nach "radikaler Arbeitszeitverkürzung" ergänzt die nach "Existenzgeld", wenn sich linke Gewerkschafter und linke Sozialpolitiker zusammentun.

Kürzer zu arbeiten finden fast alle gut, aber die (gewerkschaftliche) Parole von der Arbeitszeitverkürzung stößt bei ArbeiterInnen auf großes Mißtrauen. Seit Mitte der 80er Jahre war sie ein Krisenregulierungsmechanismus in den Händen von Unternehmen und Gewerkschaften, mit dem die ArbeiterInnen doppelt betrogen wurden: die Arbeitszeit hat nicht spürbar abgenommen, aber die Löhne sind gesunken. Die Verkürzung der tariflichen Wochenarbeitszeit hat den Acht-Stunden-Tag abgeschafft und eine radikale Flexibilisierung der Arbeitszeit in der Industrie ermöglicht. Im Unterschied zu Frankreich, wo die Arbeitszeit per Gesetz verkürzt wurde, ließ man in der BRD die ArbeiterInnen im "historischen" Tarifkampf 1984 für ihre eigene Flexibilisierung kämpfen.

Zur bisher radikalsten Verkürzung der Regelarbeitszeit kam es auf Initiative eines Unternehmens. 1994 ging VW mit der Einführung der 28,8-Stunden-Woche noch unter die 30-Stunden, die die Gewerkschaften bis dahin kaum zu diskutieren wagten. Das VW-Modell wird bis in die Linke hinein als "zukunftsweisend" gelobt und vor allem im Ausland von ArbeiterInnen und Gewerkschaftsgruppen als Zielrichtung gesehen.

Während aber viel von Arbeitszeitverkürzung geredet wird, geht die Tendenz in Richtung Verlängerung der Arbeitszeit.

1. Arbeitszeit und Verweigerung der Arbeit

Die Auseinandersetzung um Lohn und Arbeitszeit steht im Zentrum des Klassenkampfs. Dabei geht es nicht nur um die absolute Länge des Arbeitstags, die durch Gesetze und gewerkschaftliche Vereinbarungen begrenzt ist. Es geht auch um die Kontrolle über die Körper und darum, wieviel Arbeit während der festgelegten Arbeitszeit aus den Arbeitern herausgepreßt wird. Der Kapitalist kauft Arbeitskraft, muß aber im Arbeitsprozeß durchsetzen, wieviel Arbeit tatsächlich verausgabt wird. In diesem alltäglichen Kampf versuchen die Arbeiter, die Poren im Arbeitstag zu vergrößern, womit sich die Schere zwischen der offiziellen und der effektiven Arbeitszeit öffnet - bis der Unternehmer angreift. Die Macht der ArbeiterInnen drückt sich in diesen informellen Poren aus; die Gewerkschaften hingegen formalisieren den Status quo in Urlaubs- und Rahmentarifverträgen, Arbeitszeitregelungen usw..

Bis Anfang der 80er Jahre gab es relativ viele Poren. Es war normal, daß ArbeiterInnen ihren Akkord nach fünf, sechs Stunden geschafft hatten und sich dann nur noch rumdrückten. In Großbetrieben war es z.B. selbstverständlich, vor Arbeitsende zu duschen und dann gemeinsam in Straßenklamotten vor der Stechuhr anzustehen. Es gab informelle Pausen, die nur zum Teil in Tarifverträgen als Akkordpausen oder Bedürfniszeiten festgeschrieben waren - dies wurden zum Angriffspunkt in den folgenden Auseinandersetzungen um die Arbeitszeit. In den 80er Jahren bezahlten die ArbeiterInnen jede kleinste Verkürzung der offiziellen Arbeitszeit mit dem Streichen dieser Poren. Schon mit der Einführung der 38½-Stunden-Woche wurde in den meisten Betrieben die bezahlte Pause der Nachtschicht in eine unbezahlte umgewandelt.

Natürlich ist es besser, um 21.15 Uhr statt um 23 Uhr aus der Spätschicht zu kommen - dafür muß aber bis zur letzten Minute gearbeitet werden, während früher in der letzten Stunde der Spätschicht eher soziale Aktivitäten angesagt waren. Dieses kollektive Beharren war auch immer Zähneknirschen, aber für die Alten war "ihre" Fabrik auch der Ort, der ihre Rolle in der Gesellschaft definiert, an dem sie sich organisieren und austauschen... Viele Junge halten das kollektive Arbeiterleben nicht aus, sie sehen darin nur Stumpfsinn und entfliehen ihm, wo sie können. Sie wollen lieber kürzer arbeiten, mehr individuelle Freizeit haben. Sie hangeln sich von Urlaub zu Freischicht, akzeptieren Befristungen, weil sie es gar nicht länger am Stück im Betrieb aushalten. Und sie versuchen, für sich alleine eine kürzere Arbeitszeit auszuhandeln - auch wenn sie dann weniger verdienen.

2. 35 Stunden oder die Träume von einer Umverteilung der Arbeit

Seit etwa 15 Jahren - also seitdem die Gewerkschaften Arbeitszeitverkürzung propagieren - sinkt die Arbeitszeit langsamer als in den Jahrzehnten davor. Zwischen 1956 (48-Stunden-Woche für fast alle ArbeiterInnen) und 1975 (40-Stunden-Woche für 96 Prozent aller ArbeiterInnen) sank die Wochenarbeitszeit um acht Stunden. Dies geschah im wesentlichen durch die Streichung des Samstags als Regelarbeitstag Ende der 60er ("Samstags gehört Vati uns"). Bis zur Einführung der 35-Stunden-Woche in der Metallindustrie 1995 in Westdeutschland dauerte es dann nochmal 20 Jahre. Jede Arbeitszeitverkürzung wurde mit einem Verzicht auf Lohnerhöhungen "bezahlt", die Überstunden stiegen regelmäßig an.

Auch beim Jahresurlaub hat sich in den letzten 16 Jahren nichts mehr getan: in der Metallindustrie wurde er von 1960 bis 1982 schrittweise von drei auf sechs Wochen verdoppelt. Eine wesentliche Rolle dabei spielten die wilden Streiks wie bei Ford 1973, der sich daran entzündete, daß Arbeiter aus der Türkei zu spät aus dem 3-wöchigen Urlaub zurückgekehrt und gekündigt worden waren.

Die tarifliche Jahresarbeitszeit je Beschäftigtem in Westdeutschland ist von Mitte der 80er Jahre bis 1997 um durchschnittlich 160 Stunden oder 9,6 Prozent gesunken. Aber seit 1995 stagniert die Entwicklung: die anderen Branchen haben nicht mit der Metallindustrie gleichgezogen. In den 80er Jahren haben die Gewerkschaften vor allem Vorruhestandsregelungen ausgehandelt, wodurch die Belegschaften radikal verjüngt und die Lebensarbeitszeit der ersten Arbeitergeneration nach dem Zweiten Weltkrieg verkürzt wurde. Dann wurden im Rahmen von Standortsicherungsverträgen nur noch befristete Arbeitszeitverkürzungen mit gleichzeitigen Lohnkürzungen abgeschlossen.

Die Forderung nach der 35-Stunden-Woche kam Anfang der 70er Jahre in der Gewerkschaftslinken auf, um den Kampf in eine "qualitative" Richtung zu lenken. Vor dem Hintergrund der weltweiten Krise 1973/74 läuteten die Unternehmen in der BRD mit Massenentlassungen eine Rationalisierungsoffensive ein. Allein in der Stahlindustrie wurden von 1975 bis 1978 ca. 40 000 Arbeitsplätze wegrationalisiert. Die Stahlarbeiter wurden so massiv angegriffen, weil es dort gut organisierte Belegschaften gab, die schon 1969 durch eine Reihe wilder Streiks den Unternehmen einen heißen Herbst bereitet hatten. Zur Sicherung der Arbeitsplätze wollten die betrieblichen Gewerkschaftskader die Arbeitswoche schrittweise verkürzen und eine fünfte Schicht einführen. Die 35-Stunden-Woche wurde 1977 auf dem IG-Metall-Gewerkschaftstag in den Forderungskatalog aufgenommen - gegen den Vorstand, der sie für übertrieben und nicht durchsetzbar hielt. Ein Jahr später ging er mit dieser Forderung in die Stahltarifrunde, um eine Krisenlösung in der Stahlindustrie herbeizuführen. Das Unternehmerlager wollte unter allen Umständen an der 40-Stunden-Woche festhalten und bot als Ersatz mehr Urlaub und Lohnerhöhungen an. Die Gewerkschaft rief den Streik aus; das war die Möglichkeit, die Stahlarbeiter unter Kontrolle zu bringen. Im November 1978 wurden die Belegschaften ausgewählter Stahlwerke in den Streik geschickt, was sofort mit massiven Aussperrungen beantwortet wurde. Während die Basis mit großem Engagement streikte, weitete die Führung den Streik nur zögerlich auf andere Betriebe aus. Im Januar 1979 schloß sie einen Tarifvertrag ab, der die 40-Stunden-Woche auf weitere fünf Jahre festschrieb - im Austausch gegen ein paar Urlaubstage und Freischichten für Nachtarbeiter. Der Streik war eine Niederlage für die linken Arbeiterkader, die von der Gewerkschaftsführung im Streik diffamiert und durch den Abschluß auf Jahre ausgebremst worden waren. Die Gewerkschaft hatte vorgeführt, daß Massenentlassungen in der Stahlindustrie nicht zu verhindern waren. Damit hatte sie auch ihre Politik in den nächsten "Stukturkrisen" festgelegt.

3. Die Gewerkschaften als Vordenker der Modernisierung

Betrachtet man die Politik der Arbeitszeitverkürzung rückwirkend, wird deutlich, daß die Gewerkschaften den Standpunkt des ideellen Gesamtkapitalisten Deutschlands eingenommen haben, als das vom Lager des Kapitals aus noch nicht möglich war. In der bis dahin tiefsten Rezession 1980-82 hatten sich die meisten Einzelgewerkschaften die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung zu eigen gemacht. Damit wollten sie die BRD zum produktivsten Wirtschaftsstandort der Welt machen, ohne krasse soziale Spaltungen wie in den USA heraufzubeschwören. Die reale Möglichkeit zur Durchsetzung dieser Strategie sahen und sehen sie in einer Flexibilisierung der Arbeitszeit, wie sie von den Großunternehmen eingefordert wurde, um die Produktionsanlagen intensiver nutzen zu können. Die 35-Stunden-Forderung enthielt von vornherein den Flexibilisierungsgedanken, der als Verhandlungsmasse eingebracht werden konnte. Von einem Sieben-Stunden-Tag war nie die Rede.

Mit solchen Modernisierungsvorstellungen eilten die Gewerkschaften (mittelständischen) Unternehmern weit voraus, die an der ganztägigen Verfügungsgewalt über die Arbeitskraft festhalten wollten. Während beispielsweise das BMW-Werk in Regensburg 1984 schon vor dem Tarifabschluß auf eine Vier-Tage-Woche umgestellt hatte, konnte man sich in Betrieben, wo Einschichtbetrieb und regelmäßige Überstunden vorherrschten, nicht so schnell auf eine andere Arbeitsorganisation umstellen. Noch 1995 arbeiteten nur 20 Prozent der kleinen und mittleren Industriebetriebe in mehreren Schichten.

Aber auch die eigene Basis, die nach den mageren Krisenjahren lieber eine satte Lohnerhöhung wollte, mußte erst gewonnen werden. Hauptargument der Gewerkschaften in der mit viel Pathos geführten Kampagne war die Massenarbeitslosigkeit: Bilder von hungerleidenden Arbeitslosen im Notstandsgebiet Detroit oder von Armutsrevolten wurden bemüht. Die 35-Stunden-Woche sollte einen solchen Anstieg der Arbeitslosigkeit verhindern, sie sollte funktional gemacht werden für eine moderne kapitalistische Lösung: kürzere Arbeitszeit, längere Betriebszeiten, niedrigere Lohnstückkosten (d.h. mehr Produktivität), Neueinstellungen.

Um diese Politik des vorweggenommenen Kompromisses gegen Widerstand auf beiden Seiten durchzusetzen, war die gesellschaftliche Dynamik eines langen Arbeitskampfs notwendig. Die Tarifauseinandersetzung wurde zum "Jahrhundert-Konflikt" hochstilisiert, an dessen Ende vielen nicht klar war, wer nun gewonnen hatte.

Die 35-Stunden-Woche sollte 1984 im Herzland der Metallindustrie Nord-Württemberg/Nord-Baden mit den bis dahin "fortschrittlichsten" Tarifverträgen durchgesetzt werden. Da die Unternehmerseite offiziell Verhandlungen über Arbeitszeitverkürzungen ablehnte, begann die IG Metall mit Schwerpunktstreiks in ausgewählten Automobil- und Zulieferbetrieben ("Minimax-Strategie"). Die Unternehmer sperrten sofort ArbeiterInnen in der ganzen BRD aus, und der Staat verweigerte den wegen Arbeitsmangel Ausgesperrten das Kurzarbeitergeld. Da die Gewerkschaft nun hauptsächlich "gegen die Aussperrungen" mobilisierte und gerichtlich gegen die Streichung des Kurzarbeitergeldes (§116 Arbeitsförderungsgesetz) vorging, bekam der Streik einen immer defensiveren Charakter, je länger er sich hinzog. Nach über sieben Wochen wurde er durch den ehemaligen Arbeitsminister Leber als Schlichter beendet. Die IG Metall feierte das Ergebnis, die stufenweise Verkürzung der Arbeitswoche auf 38½ Stunden, als "Einstieg in die 35-Stunden-Woche" - obwohl klar war, daß gerade die schrittweise Reduzierung der Arbeitszeit kaum zu Neueinstellungen führen würde.

Der wirkliche Durchbruch war die Flexibilisierung der Arbeitszeit: nach dem "Leber-Kompromiß" mußte nur die durchschnittliche betriebliche Arbeitszeit 38½ Stunden betragen. Bis zu 18 Prozent der Belegschaft konnten bis zu 40, andere nur 37 Stunden arbeiten. Die Maschinenlaufzeiten konnten entsprechend verlängert werden - je nach betrieblichen Erfordernissen. Denn die konkrete Ausgestaltung der Arbeitszeitverkürzung wird seither zwischen Betriebsrat und Unternehmer ausgehandelt.

Diese Form der Arbeitszeitverkürzung wurde nach und nach von den anderen Gewerkschaften übernommen. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre hatten die Gewerkschaften bereits massive Probleme, ihre Basis für einen weiteren Kampf um die 35-Stunden-Woche zu mobilisieren. Vom "historischen" 1.10.95, an dem endlich die Arbeitswoche der MetallarbeiterInnen auf 35 Stunden verkürzt wurde, nahm kaum jemand Notiz. Der Ausgleichszeitraum für Mehrarbeit war inzwischen auf zwei Jahre ausgedehnt worden...

Die Betriebszeiten in der Metallindustrie sind von durchschnittlich 60,6 Wochenstunden im Jahre 1984 auf 71,8 Wochenstunden im Jahre 1996 ausgedehnt worden.1 Die Arbeitsproduktivität ist schneller gestiegen als die Arbeitszeit gesunken ist - im Gegensatz zu den "Modellländern" USA oder Niederlande, wo die Löhne gesunken sind, aber die Arbeitsproduktivität kaum gestiegen ist.2  In deutschen Mehrschichtbetrieben laufen die Maschinen länger als im europäischen Durchschnitt - trotz der kürzeren Regelarbeitszeit der Beschäftigten. Da dem Ziel Arbeitszeitverkürzung mögliche Lohnerhöhungen geopfert wurden, liegen auch die Lohnstückkosten auf einem spektakulär niedrigen Niveau. Mit Lohnabschlüssen unterhalb der Inflationsrate war, gemessen an der Produktivitätsentwicklung, die Lohnzurückhaltung in der BRD in den 90er Jahren größer als in den USA.3 

Von der vielbeschworenen "Zeitsouveränität" der ArbeiterInnen kann in den produktiven Zentren keine Rede sein: hier geht es allein darum, eine möglichst "schlanke" Belegschaft gemäß Auftragslage flexibel einzusetzen, ohne daß Mehrarbeitszuschläge anfallen. Inzwischen haben die Gewerkschaften "Verhandlungsmasse" verloren: Immer mehr Betriebe flexibilisieren die Arbeitszeit, ohne sie zu verkürzen.

Fast zeitgleich mit der Einführung der 38½-Stunden-Woche in der Metallindustrie trat 1985 das "Beschäftigungsförderungsgesetz" in Kraft, das Beschränkungen für Leiharbeit aufhob und befristete Arbeitsverhältnisse bis zu 18 (seit 1996 bis zu 24) Monaten in der Industrie erlaubt, die früher nur aus besonderem Grund wie Vertretung für Schwangere oder Wehrpflichtige zulässig waren. Der Zeitvertrag ist inzwischen zur Normalität bei Neueinstellungen geworden; ein sogenannter Dauerarbeitsplatz ist erst nach längerer befristeter Beschäftigung zu haben.

4. Die Linke und die Gewerkschaften

Nach dem deutschen Arbeitsrecht haben allein die Gewerkschaften das Recht, einen Streik auszurufen. Sie haben jedoch nur Zugang zum Betrieb, wenn sie dort über Mitglieder verfügen. Formelle rechtliche Macht ("Mitbestimmung") haben nur die Betriebsräte, die nicht zwangsläufig gewerkschaftsgebunden sind. Deshalb setzen die Gewerkschaften alles daran, diese Betriebsratsposten zu besetzen. Die Betriebsräte der Großunternehmen sitzen in den Ortsvorständen und bringen dort ihr Gewicht ein. Gerade sie drängen auf eine "flexible" Tarifpolitik.

Für die Linke spielen die Gewerkschaften eine besondere Rolle als Aktionsfeld, von dem aus sie Einfluß auf die Arbeiterklasse nehmen und Kämpfe "politisieren" wollen. Sie hielten auch an dieser Ersatzpartei fest, als die Gewerkschaften Ende der 70er Jahre schon stark von der "Krise der Institutionen" gezeichnet waren. Die im Betrieb verbliebenen Linken versuchten, die Instanzen der Interessenvertretung zu besetzen, womit sich ihr Blickfeld auf die Arbeiterklasse veränderte. Seit Anfang der 80er Jahre reduzierte sich ihre Aktivität auf die "Rettung der Gewerkschaften": niemand nahm die Vorstandsparole, daß es beim Kampf um die 35-Stunden-Woche "um die Existenz der Gewerkschaften" gehe, ernster als die Linken aller Schattierungen, die die Hauptarbeit der Mobilisierung leisteten. Die Einschätzung, daß die Gewerkschaft fortschrittlicher ist als die Arbeiter, prägt bis heute die Betriebslinke.

Eingebunden in die alltägliche "vertrauensvolle Zusammenarbeit" des Betriebsrats mit dem Unternehmen, wurde aus einer radikalen Opposition zunehmend "konstruktive Politik", die sich heute mit "Standortpolitik" auseinandersetzen muß.

Das Projekt der Gewerkschaftslinken, durch Arbeitszeitverkürzung zu einer Umverteilung von Arbeit zu kommen, ist gescheitert. Weder Lohnzurückhaltung noch Flexibilisierung der Tarifpolitik haben die von ihren Befürwortern erhoffte "Umverteilung von Arbeit" an die Arbeitslosen erbracht. Optimistische Gewerkschafts-Analysen schätzen den Beschäftigungseffekt auf ein Drittel bis die Hälfte der verkürzten Arbeitszeit... Dies allerdings nur dann, wenn "die stärkere Position auf dem Arbeitsmarkt" nicht zu Lohnerhöhungen führe, die die Beschäftigungswirkung mittelfristig zunichtemachen! Kritische Analysen sehen überhaupt keine Beschäftigungswirkung, und weisen daraufhin, daß vor allem die Lohnzuwächse aufgrund der kombinierten Abschlüsse zurückgeblieben sind.4

Als kaum noch jemand von weiterer Arbeitszeitverkürzung redete, platzte im Oktober 1993 eine Bombe: Volkswagen verkündete, die Arbeitszeit auf 28,8 Wochenstunden zu senken. Mitten in der Krise der Autoindustrie, als das Unternehmerlager nur von Arbeitszeitverlängerung und Lohnkürzung sprach, schien der Abschluß bei VW in eine andere Richtung zu gehen.

5. Das VW-Modell: moderner rheinischer Kapitalismus

Mit der 28,8-Stunden-Woche hat der VW-Konzern die Produktion umstrukturiert. Mit Hilfe der Gewerkschaft ist es Volkswagen gelungen, seinen Anfang der 90er Jahre bestehenden Rückstand in der Rationalisierung aufzuholen. Im IG Metall-Musterbetrieb hatten die Arbeiter die höchsten Löhne, die meisten Sonderzahlungen, die längsten Pausen, die besten Urlaubsregelungen - und die Autos hatten die längste Bauzeit. In den 80er Jahren hatte man mit hochautomatisierter Fertigung ("menschenleere Fabriken") experimentiert und war am hohen Kapitalaufwand und der Abhängigkeit von wenigen Spezialisten gescheitert. Ein Produktivitätsschub war nur über eine Neuorganisierung des Arbeitsprozesses zu erreichen. Dazu gehörte die Abschaffung des alten Akkordsystems, die Abschöpfung des Arbeiterwissens durch den Kontinuierlichen Verbesserungsprozeß (KVP), die Aufhebung der alten Meister- und Vorarbeiterhierarchien sowie die Übertragung von Verantwortung auf die Gruppen.

Kurz nachdem dieser Prozeß mit Mühen angelaufen war, errechnete die Konzernleitung im Oktober 1993 einen "Überhang" von 31 000 bei insgesamt 108 000 Beschäftigten und kündigte Entlassungen an, insbesondere im "Dinosaurier" Wolfsburg (53 000 Beschäftigte). Eine Massenentlassung mit Sozialplan in dieser Größenordnung wäre nicht nur teuer gewesen, sondern hätte zu einer Konfrontation mit den ArbeiterInnen und zur Verweigerung ihrer Kooperation geführt.

Stattdessen schlug VW eine radikale Veränderung der Arbeitszeiten vor. Die IG Metall handelte innerhalb von vier Wochen die Verkürzung der Arbeitswoche auf 28,8 Stunden ab 1994 aus und opferte dabei ihren Grundsatz des "vollen Lohnausgleichs". Im Gegenzug verzichtete das Unternehmen für zwei Jahre auf betriebsbedingte Kündigungen. Vor die Alternative gestellt: 40 000 Entlassungen oder 28,8-Stunden-Woche in allen VW-Werken, akzeptierte die Belegschaft die Flexibilisierung.

Der Verzicht auf Entlassungen schuf das Klima für die Umstrukturierung. VW behielt eine qualifizierte Arbeitskraftreserve, konnte das Problem der mangelnden Rentabilität bei geringer Auslastung lösen und sicherte sich gegen zu hohe Lohnkosten bei einem Auftragseinbruch ab.

Der Belegschaftsabbau über Vorruhestand, Aufhebungsverträge und Nichtverlängern von Zeitverträgen ging gleichwohl weiter: von 108 000 Beschäftigten 1993 auf 94 000 im Verlauf des Jahres 1995. Denn "Beschäftigungssicherung" heißt nur Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen, nicht Erhalt aller Arbeitsplätze.

In der "atmenden Fabrik" paßt sich die Arbeitszeit den Erfordernissen der Produktion an. Die arbeitsfreie Zeit ist individualisiert und noch stärker vom Produktionsvolumen abhängig. Die Verfügungsgewalt des Unternehmens über die Zeit der ArbeiterInnen ist größer geworden. Es gibt keine gemeinsamen Pausen über Arbeitsgruppen hinweg, was die Kommunikationsmöglichkeiten stark einschränkt. Theoretisch kann jeder Arbeiter an Standorten eingesetzt werden, die Hunderte von Kilometern auseinander liegen. Es wurden über 150 verschiedene Arbeitszeitregelungen und Schichtmodelle ausprobiert, von Kurzschichten im Vier-Schicht-Betrieb rund um die Uhr bis zu relativ "normalen" Acht-Stunden-Tagen mit Blockfreizeiten. Auf diese Weise konnten die Betriebszeiten für einzelne Modelle von 3 700 auf bis zu 4 600 Stunden im Jahr verlängert werden.5 Die Arbeitszeit zur Herstellung eines Autos ist von 1993 bis 1998 von 30 auf 20 Stunden gesunken.

Die 28,8-Stunden-Woche stößt nach anfänglichen Vorbehalten inzwischen auf relativ breite Zustimmung in der Belegschaft. Gerade die jüngeren, nicht familiengebundenen ArbeiterInnen finden es gut, kürzer zu arbeiten, auch wenn der Erholungseffekt durch die gestiegene Arbeitsbelastung und ungünstige Zeiten wieder aufgefressen wird. Der regelmäßige Monatslohn blieb annähernd gleich. Gestrichen wurden die bei VW hohen jährlichen Sonderzahlungen, so daß der Bruttojahreslohn um 16 Prozent (netto um 10 Prozent) sank. Der VW-Haustarif betrug vorher das 1,6-fache des Tariflohns in Niedersachsen. Die Regelung kann also nicht einfach auf andere Betriebe übertragen werden.

Der zehnprozentige Lohnverlust gilt nur für die Kernbelegschaft, nicht für die LeiharbeiterInnen des GIZ. Das Gründungs- und Innovationszentrum Wolfsburg GmbH ist eine Leiharbeitsfirma, deren Eigentümer VW, das Land Niedersachsen und die IG Metall sind und die in der Urlaubszeit oder vorübergehend Studenten und Zeitarbeiter zu schlechteren Tarifen im VW-Werk beschäftigt: 21 DM brutto pro Stunde, während VW-ArbeiterInnen im Schnitt 30 DM haben.

Entgegen der Propaganda war die 28,8-Stunden-Woche bei Sieben-Stunden-Tag nur für eine Minderheit der VW-Beschäftigten Realität. Sie betraf zum einen schlecht ausgelastete Werke wie Emden, zum anderen die Angestellten, die nicht einem rigiden Maschinenrhythmus unterworfen sind und wo noch viele Poren vermutet werden. Im LKW-Werk Hannover wurde aufgrund guter Auslastung praktisch die ganze Zeit 37,5 Stunden in der Woche gearbeitet. Bezahlt werden 35; 1,2 Stunden werden dem Betrieb geschenkt ("Beschäftigungssicherung"!), 1,3 Stunden werden in Freizeit abgegolten. Bei Krankheit und im Urlaub werden nur 28,8 Stunden bezahlt. Weil die 28,8-Stunden-Woche nur Lohnsenkung brachte, gab es in Hannover 1995 heftige Proteste, als die Vereinbarung verlängert und mit weiteren Zumutungen versehen wurde wie Kürzung der Erholzeiten, zwölf Samstagsschichten mit gesenktem Samstagszuschlag und Mehrarbeitszuschlag erst bei über 38,8 Wochenstunden.

1998 wurde auch in anderen Werken die Produktion hochgefahren, aufgrund der Personalknappheit wird Mehrarbeit bevorzugt ausbezahlt. Gleichzeitig gab es befristete Neueinstellungen.

Im Februar 1999 kippte das Werk Wolfsburg die unterschiedlichen Arbeitszeiten und stellte um auf einen starren Drei-Schicht-Betrieb mit der Option, je nach Auftragslage an vier, fünf oder sechs Tagen pro Woche arbeiten zu lassen, wobei die 28,8-Stunden-Woche Berechnungsbasis bleibt. "Mit dem Fortschritt in der Umsetzung der Segmentierung von Fertigungsstrukturen wird die Synchronisierung der Arbeitszeitorganisation ... weiter verfolgt," heißt es in der Anweisung an die Vorgesetzten. Mit der Neuregelung wird Nachtschicht für alle in den Dreischicht-Abteilungen durchgesetzt und eine weitere Produktivitätssteigerung anvisiert.

 

Folgende Meldungen aus den letzten Monaten zeigen, wie VW-ArbeiterInnen weltweit unter Druck gesetzt werden:

Im belgischen VW-Werk bei Brüssel ist geplant, die Verträge fast aller befristet Beschäftigten (843 von insgesamt 6 900) nicht zu verlängern. Die Pausenzeiten sollen gesenkt werden. Ihre Verlängerung war im Streik vom Herbst 1994 hart umkämpft. "Wir wollen nicht an den Bändern krepieren" - lautete damals eine Parole. Jetzt will der Konzern die 6-Tagewoche mit drei Schichten einführen und die Tagesproduktion um 25 Prozent auf 1000 Fahrzeuge erhöhen mit über 10 Prozent weniger Personal! Für die beiden Werke Anchieta und Taubaté von VW do Brasil hatte die Geschäftsleitung gedroht, 7 500 ArbeiterInnen zu entlassen. Jetzt gibt es eine Vereinbarung mit der Gewerkschaft des Dachverbands CUT zum "Erhalt" dieser Arbeitsplätze und zur garantierten Weiterbeschäftigung von 900 Befristeten. Zukünftig wird allerdings ein Großteil der Beschäftigten bei Einführung der 28,8-Stunden-Woche etwa 15 Prozent weniger verdienen. Hintergrund ist die Auto-Krise in Brasilien.


 

6. Die Krise 1992/93 und die Standortsicherungsverträge

Die Wirtschaftskrise 1992/93 war ein Einschnitt. Während die Autoindustrie den Absatzrückgang nutzte, um die Produktion grundlegend umzustrukturieren und mit Entlassungen und Produktionsverlagerungen drohte, sahen sich die Gewerkschaften zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg starken Mitgliederverlusten ausgesetzt. Im Gegenzug versuchten sie, ihren Einfluß dort zu erhalten, wo schon immer die Basis ihrer Macht lag: in der Anerkennung durch Kapital und Staat. Gewerkschaftliche Forschungsinstitute konzentrierten ihre ganze Kraft auf die Ausarbeitung von Standortkonzepten für die deutsche Industrie - und nahmen das Thema ernster als die Kapitalisten. Betriebsräte schlossen einvernehmlich mit dem Unternehmer Standortsicherungsverträge ab, die bislang sicher geglaubte Dämme einrissen, ohne irgendwelche Vorteile für die ArbeiterInnen zu bringen. wie es bei VW wenigstens noch der Fall war.

Die Betriebsvereinbarungen mit fünf Jahren Laufzeit in den Daimler-Werken Wörth und Gaggenau leiteten im Frühjahr 1993 die Wende ein. Positionen, die in den 70er Jahren erkämpft worden waren, wie z.B. die stündlichen Bandpausen bei Akkordarbeit, wurden geräumt und Arbeitszeitverlängerungen durchgesetzt. Zudem verpflichtete sich der Betriebsrat im LKW-Werk Wörth, aktiv an einer Senkung der Kosten um 30 Prozent und der Zeitvorgaben um 20 Prozent mitzuwirken - gegen die Zusicherung, die Produktion eines Leicht-LKWs nicht nach Tschechien zu verlagern. Die Belegschaft wurde bis 1994 von 15 000 auf 10 000 reduziert.

Die alte Arbeitszeitordnung von 1938, die die Mindestbedingungen der Ausbeutung wie Arbeitszeit oder Urlaub festlegte, sofern kein Tarifvertrag gilt, wurde 1994 den Erfordernissen flexibler Arbeitszeiten angepaßt. Der Achtstundentag gilt zwar im Grundsatz weiterhin, kann aber jetzt auf zehn Stunden täglich an sechs Tagen in der Woche verlängert werden, wenn die Mehrarbeit innerhalb von sechs Monaten ausgeglichen wird. Der Samstag gilt als Werktag. Mehrarbeitszuschläge (früher 25 Prozent) sind nicht mehr vorgeschrieben.

Die in den letzten Jahren abgeschlossenen Flächentarifverträge erlauben, im Krisenfall gegen eine Beschäftigungsgarantie zeitweise Arbeitszeitverkürzungen auf bis zu 30 Stunden oder Arbeitszeitverlängerungen mit Lohnkürzungen auf Betriebsebene zu vereinbaren. In den letzten Jahren wurden in einem Viertel der Betriebe mit Betriebs- oder Personalräten Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen vereinbart wie kürzere Arbeitszeit mit gekürztem Lohn, Verzicht auf Überstundenzuschläge, Samstagsschichten, Abstriche bei den Sonderzahlungen, Arbeitszeitverlängerungen, Streichung von übertariflichen Zahlungen - alles gegen meist sehr vage Zusicherungen zum Erhalt des Standorts.6

Einige Beispiele aus Großbetrieben, die richtungsweisend waren:

      1. 1996 drohte die Opel-Zentrale, 4 000 von 15 000 Arbeitsplätzen am Standort Bochum bis zum Jahr 2000 wegfallen zu lassen. Daraufhin hat die Betriebsratsmehrheit eine Vereinbarung unterzeichnet, nach der die wöchentliche Arbeitszeit je nach Arbeitsanfall variieren kann und erst innerhalb von 36 Monaten ausgeglichen werden muß. Zwölf zuschlagfreie Samstagsschichten gehören dazu. Im Opel-Stammwerk Rüsselsheim schwankt die Arbeitszeit zwischen 30 und 38,75 Stunden.
      2. Bei Ford Köln stimmte 1998 der Betriebsrat einer Erhöhung der Regelarbeitszeit auf 37,5 Stunden für die Dauer von zwei Jahren zu - ohne daß die ArbeiterInnen dafür mehr Geld bekommen, da die zweieinhalb Stunden Mehrarbeit den Lohnverlust ausgleichen, der durch Anrechnung der übertariflichen Zulagen auf die tarifliche Lohnerhöhung entanden war. Zusätzlich mußten 70 Stunden auf ein Freischichtkonto gearbeitet werden, die erst später abgefeiert werden sollten. Die Vereinbarung wurde gegen die Zusage geschlossen, den Standort Köln (Stammsitz des Unternehmens!) bis zum Jahr 2011 nicht aufzugeben - ohne daß die Zahl der Beschäftigten und die Art ihrer Arbeit festgelegt wurde. Theoretisch können sie im firmeneigenen Karnevalsverein beschäftigt werden.7
      3. Im Mercedes-Werk Kassel vereinbarten 1996 IG Metall-Betriebsrat und Werkleitung eine Lohnkürzung um fünf Prozent gegen eine Arbeitsplatzgarantie bis zum Jahr 2000.
      4. Im VW-Werk Hannover hat sich die Betriebsratsmehrheit 1999 auf eine diesjährige Produktivitätssteigerung von 16,5 Prozent verpflichtet.

Volkswagen und Daimler-Chrysler sind Konzerne, die Milliardengewinne einstreichen, keine Krisenbetriebe. Allgemein ist festzustellen, daß die spektakulärsten Standortsicherungsverträge zu einem Zeitpunkt abgeschlossen wurden, als die Absatzkrise im Autosektor gerade überwunden war und die Produktion wieder hochgefahren wurde.

In den meisten Reifenfabriken wurde die Arbeitszeit wieder verlängert. Pirelli in Breuberg/Odenwald hatte 1995 die Ausnahmegenehmigung zur Sieben-Tage-Woche im Dreischichtbetrieb erhalten mit Hinweis auf Wettbewerbsnachteile gegenüber ausländischen Konkurrenten. Die anderen Reifenproduzenten in der BRD folgten. Seit Januar 1999 gilt bei Pirelli eine Betriebsvereinbarung über die Rückkehr von der 37½- zur 40-Stunden-Woche - ohne daß der Monatslohn entsprechend steigt! Dafür verzichtet das Unternehmen bis 2001 auf betriebsbedingte Kündigungen - bis dahin soll die Produktion um 20 Prozent gesteigert werden!8

7. Die Arbeitszeit wird wieder länger

Im Gegensatz zu Frankreich und England ist in der BRD die tatsächliche Jahresarbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten zwischen 1983 und 1993 um ca. vier Prozent zurückgegangen, wobei es große Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland gibt. Wesentlich stärker ist die durchschnittliche Jahresarbeitszeit aller Beschäftigten zurückgegangen, weil parallel zum Anstieg der Frauenlohnarbeit seit den 60er Jahren die Teilzeitarbeit stark angestiegen ist. Die gewerkschaftliche Tarifpolitik hat die Entwicklung lange Zeit systematisch ignoriert und an der Forderung nach allgemeiner Arbeitszeitverkürzung auf 35 Stunden bei vollem Lohnausgleich festgehalten. Heute wollen die Gewerkschaften in einer Kampagne die Männer zur Teilzeitarbeit ermutigen. Diese Form der Arbeitszeitverkürzung hat sich seit den 70er Jahren ausgebreitet. Wer mehr "Zeitautonomie" wollte und genug verdiente, hat nicht auf die Einführung der 35-Stunden-Woche gewartet, sondern individuell versucht, seine Arbeitszeit anders zu gestalten.

Heute weist vieles darauf hin, daß der Jahrhunderttrend zur Verkürzung der Arbeitszeit rückläufig ist.

Die Fehlzeiten sind an einem historischen Tiefpunkt von ungefähr vier Prozent angelangt. In allen größeren Betrieben gibt es Anti-Fehlzeiten-Kampagnen, auf die sich die Betriebsräte im Zuge der Arbeitszeitverkürzung und der "Standortsicherung" eingelassen haben.

Während die tarifliche Arbeitszeit zurückgeht, braucht eine wachsende Zahl von ArbeiterInnen einen Zweitjob, um die Reallohnverluste der letzten Jahre auszugleichen. Im letzten Jahr übten etwa drei Millionen regulär Beschäftigter einen Nebenjob bzw. eine selbständige Tätigkeit von durchschnittlich zehn Wochenstunden aus.9

Gleichzeitig ließen die Unternehmen 1,8 Mrd Stunden an Überstunden arbeiten - rein rechnerisch eine Million Arbeitsplätze: ein Zeichen dafür, daß die Stammbelegschaften maximal reduziert sind und Neueinstellungen vermieden werden. Daß es nur halb so viele "klassische Überstunden" waren wie im Boomjahr 1970, liegt daran, daß 80 Prozent der Betriebe mit Betriebsrat inzwischen Arbeitszeitkonten für zuschlagfreie Mehrarbeit eingeführt haben.

Die wichtigste neue Tendenz ist die Zunahme unbezahlter Mehrarbeit im Rahmen von "Vertrauensarbeitszeiten", die nirgendwo erfaßt werden. Betroffen sind vor allem Angestellte in Vertrieb, Netzwerkadministration und Programmierung mit hohem Leistungs- und Termindruck, wo Arbeitswochen zwischen 50 und 60 Stunden keine Seltenheit sind. "Zunehmend gehen die Unternehmen - vor allem im Bereich der höher qualifizierten Beschäftigten - dazu über, entweder im Arbeitsvertrag keine Arbeitszeit mehr vorzugeben und nur noch eine Gesamtleistung zu bezahlen oder die tatsächliche Arbeitszeit nicht mehr voll zu registrieren. (...) Nicht mehr registrierte und bezahlte Arbeitszeit läßt sich aber nicht umverteilen."10 IBM strebt einen allgemeinen Arbeitszeitrahmen von 19-60 Stunden an, innerhalb dessen die Angestellten ihre Arbeit erledigen müssen, ohne die Zeit extra zu erfassen. Dies soll soviel Druck erzeugen, daß sie mehr arbeiten, als sie eigentlich wollen.

8. Wie verhalten sich die ArbeiterInnen?

Die jahrelange Propaganda, die Arbeitslose und "Arbeitsplatzbesitzer" gegeneinander auszuspielen versucht, zeigt eine gewisse Wirkung. Aber nicht alle Belegschaften haben die Standortsicherungsverträge schweigend akzeptiert: Kleine wilde Streiks an den Bändern wie im Sommer 1993 bei Opel Bochum gegen die "Initiative Standortsicherung" der Betriebsleitung, oder bei Daimler-Wörth, als der Arbeitsdruck unerträglich wurde, sind ein Ausdruck davon. Ebenso das Hochschnellen der Krankenraten in einer einzelnen Abteilung. Daß nur wenige kollektive Proteste nach außen dringen, ist ein Ergebnis der Verbetrieblichung der Auseinandersetzungen.

In einzelnen "kampfstarken" Betrieben konnten Betriebsräte die Arbeitszeitverkürzung durchaus als Verbesserung für die Stammbelegschaft ausgestalten; sie wurden damit aber nicht wie früher zum Vorreiter, sondern sind mehr und mehr isoliert von den anderen ArbeiterInnen. Dieselben Betriebsräte sehen zu, wie ganze Abteilungen an Fremdfirmen mit niedrigeren Löhnen ausgelagert werden, wie Produktionsspitzen mit LeiharbeiterInnen ausgeglichen werden, wie befristete Arbeitsverträge bei Neueinstellungen von ArbeiterInnen die Regel werden. Die Gewerkschaften sind zuallerst Vertreter der Stammbelegschaft, die Randbelegschaft ist Verhandlungsmasse, um bessere Vereinbarungen zu erzielen.

In den Tarifauseinandersetzungen 1999 werden für die Arbeitszeiten immer höhere Pluskonten und längere Ausgleichszeiträume festgelegt: im Öffentlichen Dienst 600 Plus- und 40 Minus-Stunden. Den Krankenhausbeschäftigten sollen die Nacht- und Schicht-Zulagen genommen werden, die sie sich vor zehn Jahren erkämpft hatten.

Daß die zugespitzte Situation in der Produktion auch eine neue Art von Kämpfen hervorbringen kann, zeigt das Opel-Werk in Bochum, wo im Oktober 1998 1800 ArbeiterInnen die Arbeit niederlegten und ultimativ die sofortige Übernahme von 300 befristet Beschäftigten forderten, deren Verträge ausliefen. Die Belegschaft war so stark reduziert worden, daß kaum noch Ablösungen für die Pausen möglich waren. Die Betriebsleitung reagierte sofort: sie senkte die Bandgeschwindigkeit um 2,5 Prozent und stellte 50 befristete Arbeiter fest ein. Im März 1999 kam es erneut zu Bandstopps und Arbeitsniederlegungen, da sich das Unternehmen sträubt, dauerhaft mehr Leute einzustellen.

Die gewerkschaftliche Politik der Arbeitszeitverkürzung war kapitalistische Krisenregulierung. Sie hat nicht die Verschärfung der Ausbeutung aufgehalten, sondern sie erst ermöglicht. Mit ihrer Teilnahme hat sich die Betriebs- und Gewerkschaftslinke verbraucht und / oder wurde vom Apparat aufgesogen. Von einem revolutionären Standpunkt aus können wir diese Modelle nicht radikalisieren - wir müssen sie grundsätzlich ablehnen und als das kritisieren, was sie in den Augen der ArbeiterInnen schon lange sind: Strategien, mit denen das Kapital sich immer rabiater die Verfügungsgewalt über unsere gesamte Zeit sichert, um uns immer mehr zu vereinzeln und intensiver ausbeuten zu können.

aus: Wildcat-Zirkular 48/49, März 1999


Fußnoten:

[1] Gerhard Bosch: "Arbeitszeitverkürzungen. Nicht nur auf das 'Ob', sondern auch auf das 'Wie' kommt es an.", Gewerkschaftliche Monatshefte 9 / 98.

[2] Beschäftigungswachstum in den USA - ein erklärbares Wunder, in: DIW-Wochenbericht Nr. 9 / 98.

[3] DIW-Wochenbericht a.a.O.

[4] H. Seifert, Arbeitszeitpolitik in Deutschland: auf der Suche nach neuen Wegen, in: WSI-Mitteilungen 9 / 1998, S. 579 ff.

[5] Bosch, a.a.O.

[6] Ergebnis einer repräsentative Befragung der WSI-Projektgruppe von fast 3 000 Betriebs- und Personalräten, WSI-Mitteilungen 10 / 98, S. 653 ff.

[7] Wegen des Umsatzeinbruchs redet niemand mehr von den geplanten 140 Stunden Mehrarbeit für 1999 auf das Freischichtkonto; stattdessen gab es Anfang 1999 schon vier Wochen Kurzarbeit.

[8] Frankfurter Rundschau, 11.12.98.

[9] Studie des gewerkschaftsnahen Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik ISG, zitiert nach Metall 11 / 1998.

[10] Bosch, a.a.O.


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