Indonesien Mitte 1998

Auch vor der Krise gab es in Indonesien jede Menge Riots, Demonstrationen, Bewegungen, Kämpfe. 1992 waren es nach offiziellen Angaben 177 Streiks, 94 schon über Tausend. 95 gab es in Jakarta zum ersten Mal seit dreißig Jahren wieder eine 1.Mai-Kundgebung. 96 wurde der 1. Mai mit Streiks gefeiert. Diese drehten sich meist um die Zahlung der Mindestlöhne. Einige Streiks in Surabaya gingen weiter, dort wurden auch politische Forderungen gestellt. Z.B. die Abschaffung von bestimmten repressiven Gesetzen und daß sich das Militär aus Streiks raushalten soll.

Die militärische Niederschlagung der Demokratiebewegung in Jakarta im Juli 96 und die anschließende Repression bringen dem Regime nur eine kurze Atempause. Im April veranstalten Studenten, sie sind Mitglieder eines Demokratiekommittees, in Yogyakarta einen Hungerstreik. 24 werden dabei verhaftet. Während des Wahlkampfs zum Repräsentantenhaus, bei dem in Indonesien immer die Hölle los ist, ungeachtet der Tatsache, daß man nicht wirklich die Wahl hat, fordern im Mai 1,4 Millionen Menschen in Jakarta Einigkeit zwischen der Oppositionsführerin Megawati Sukarnoputri und der Islamischen Partei. Die Menge ruft Parolen gegen Regierung und Militär.

Im letzten Jahr traten auch 16.000 Arbeiter der von Habibie geleiteten Flugzeugwerke in den Streik. Nachdem Habibie bei seinem Lieblingsprojekt schon am ersten Tag Zugeständnisse macht, streiken trotzdem einige hundert Arbeiter einen zweiten Tag. Bei einer Nike-Schuhfabrik streiken 5000. In einer Textilfabrik streiken 4500 gegen unmenschliche Arbeitsbedingungen.

Es gibt auch viele Streiks in kleineren Betrieben. Die Militanz nimmt zu, immer öfter werden Manager verprügelt. In vielen Städten gibt es Streiks im Transportsektor, z.B. wegen der Bestechungssummen, die die Fahrer für ihre Lizenzen zahlen müssen, oder in Ujung Pandang im Oktober wegen der chaotischen Verkehrssituation.

Am 23. September versammeln sich studentische Demokratie-Aktivisten und Arbeiter im Foyer des Parlaments, um gegen neue Arbeitsgesetze zu protestieren. Mindestens neun werden verhaftet.

Im Oktober greifen Bewohner eines Stadtteils von Jakarta ein Verwaltungsgebäude an, wegen der schlechten Wasserversorgung. Es gibt außerdem Lohnstreiks in Tabakplantagen, Angriffe auf Polizeistationen wegen Polizeiwillkür, einen Streik von hunderten Studenten in Surabaya wegen Gebührenerhöhung. Im November streiken 40.000 Arbeiter einer Zigarettenfabrik.

Man sieht, die Proteste 98 sind nicht plötzlich ausgebrochen, die Scheiße war schon vorher am Dampfen Aber damit sie zu einer Drohung für das Regime werden konnten, mußte dieses erst die Rechtfertigung verlieren, nämlich die Hoffnung der Leute, daß der Lebensstandard weiter steigt.

Im Oktober 97 wird das erste Abkommen mir dem IWF geschlossen. Im Dezember werden als ersten Maßnahme einige marode Banken geschlossen, wobei die Regierung für die Spareinlagen garantiert. Trotzdem bricht Bankpanik aus, die Zentralbank muß mehr Rupiah drucken, das heizt die Inflation an. Anfang Januar stellt Soeharto seinen Haushaltsplan vor - und der ist ein klarer Bruch mit dem IWF-Abkommen. Kein Abbau von Subventionen und Preiskontrollen, die Staatsausgaben sollen steigen. Im März steht die Wiederernennung Soehartos zum Präsidenten an, unpopuläre Maßnahmen sollen wohl auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden.

Schon die Möglichkeit, daß der IWF infolge des Vertragsbruchs die Auszahlung weiterer Kreditraten aussetzt, schickt die Rupiah in den freien Fall. Panikkäufe in den nächsten Tagen verschärfen die Situation noch. Außerdem ist wegen Trockenheit im letzten Jahr eine Ernte fast komplett ausgefallen. Die Folge sind enorme Preisteigerungen, vor allem bei Grundnahrungsmitteln.

Diese Preissteigerungen führen zu Unruhen und Plünderungen im Januar und Februar. Sie brechen in Dutzenden von kleineren Städten aus, zunächst auf Java, dann auf anderen Inseln. Die wichtigsten Großstädte und die Ferieninsel Bali werden vom Militär zu Gebieten erklärt, in denen Krawalle auf jeden Fall verhindert werden.

Bei vielen dieser Riots, wenn auch nicht bei allen, gibt es anti-chinesische Aspekte. Der Handel wird vielerorts von Leuten chinesischer Abstammung dominiert Das ist ein Grund, warum deren Geschäfte oft Ziel von Plünderungen und Zerstörung sind. Es gibt auch anti-chinesischen Rassismus. Händler versuchen ihre Läden mit Schildern auf denen "Moslem" oder "Einheimischer" steht, zu schützen. Oder sie hängen Gebetsteppiche auf. Mindestens fünf Leute, Rioter wohlgemerkt, keine Ladenbesitzer, kommen in dieser Zeit ums Leben, zwei davon von Sicherheitskräften erschossen, einige hundert werden verhaftet.

Es läßt sich schwer entscheiden, ob Regierung oder Militär die Unruhen direkt angestiftet und dann in eine anti-chinesische Richtung gelenkt haben. Ganz sicher haben sie aber das anti-chinesisches Klima geschürt. Chinesische Geschäftsleute wurden beschuldigt, Waren zu horten, ihr Geld ins Ausland zu bringen, oder ganz allgemein für die Krise verantwortlich zu sein.

Mitte Februar bekommen die Sicherheitskräfte Anweisung, schärfer durchzugreifen, daraufhin flauen die Riots ab.

Zur selben Zeit werden die Studenten aktiv. Es gibt 2,3 Millionen Studenten in Indonesien, die meisten aus der Mittelschicht. Der droht durch die Krise der soziale Abstieg. Viele Studenten müssen damit rechnen, ihr Studium aus finanziellen Gründen nicht abschließen zu können. Oder danach keinen Job zu finden.

Es gibt zunächst kleinere Demonstrationen mit einigen hundert Teilnehmern. Die Forderungen sind niedrigere Preise, Reformen, Ende der Korruption, Rücktritt Soehartos. Die Proteste weiten sich auf immer mehr Städte aus, die Teilnehmerzahlen steigen. Im März protestieren an über 30 Universitäten Studenten gegen Soehartos Wiederernennung.

Solange sich die Demos auf das Universitätsgelände beschränken, werden sie toleriert, vom Verteidigungsminister sogar als konstruktive Kritik bezeichnet. Wenn die Studenten allerdings versuchen, den Campus zu verlassen, um die Bevölkerung in die Demos miteinzubeziehen, schlagen die Sicherheitskräfte zu. Trotzdem schließen sich auch Nichtstudenten an. Am Geburtstag einer Pionierin des indonesischen Feminismus, finden in einigen Städten reine Frauendemos statt. In Surabaya nehmen 1000 Frauen teil: Studentinnen, Dozentinnen, Nonnen, Krankenschwestern, Hausfrauen, Fabrikarbeiterinnen und einige Prostituierte.

Ab Ende März werden die Auseinandersetzungen zwischen Studenten und Sicherheitskräften immer gewalttätiger. Daß die Polizei immer häufiger Tränengas und Gummigeschosse einsetzt, tut der Bewegung aber keinen Abbruch, im Gegenteil. Ende April kommt es in Medan in Nordsumatra zu tagelangen Straßenschlachten, bei denen die Studenten Molotowcocktail schmeißen.

Am 4. Mai steigen wegen der vom IWF verordneten Subventionsstreichungen die Preise für Benzin, Transport und Kerosin. Das Kerosin brauchen viele Leute zum Kochen. Sofort brechen in Medan mehrtägige Riots aus, Geschäfte werden geplündert, Fahrzeuge verbrannt, eine Polizeistation angegriffen. In Surabaya haben Studenten um Mitternacht Tankstellen besetzt. In verschiedenen Städten schließen sich immer mehr Arbeiter und Arbeitslose den Protesten an. In Yogyakarta demonstrieren 10.000 Studenten und Arbeiter. In Jakarta, Bandung und Ujung Pandang werden Reifen und Soehartobilder verbrannt.

In Tangerang, einer Industriestadt nahe Jakarta, machen 4000 Arbeiter von zwei Keramikfabriken eine Kundgebung, auf der sie höhere Sozialleistungen fordern. 1500 Arbeiter einer Holzverarbeitungsfabrik in Westjava streiken für höheren Lohn. Wir wissen von Streiks in mindestens sechs anderen Städten. Lokale Behörden bemühen sich, zu verhindern, daß kleinere Boykott-Aktionen von Bus- und Taxifahrern nicht in einen Transportstreik münden. Die Fahrer versuchen, höhere Fahrpreise durchzusetzen, um die neuen Benzinkosten zu decken. In Jakarta gibt es am 6. Mai eine Demonstration von Minibusfahrern, der sich auch Studenten anschließen.

Die Studentenbewegung gewinnt mehr und mehr Zustimmung: Verschiedene religiöse Organisationen, Zeitungen und Intellektuelle äußern öffentlich ihre Billigung.

Am 12. Mai erschießen Sicherheitskräfte sechs Studenten. Dies ist der Auslöser für die Riots in Jakarta vom 13. - 15. Mai. Tausende von Häusern, Geschäften, Supermärkten, Einkaufszentren Fahrzeugen werden geplündert und abgefackelt. Symbole des verhaßten Regimes werden angegriffen, wie Polizeistationen oder Firmen im Besitz von Soeharto und seiner Freunde. Z.B. werden 122 Filialen der Bank Central Asia und unzählige ihrer Kassenautomaten zerstört. Die Bank Central Asia ist die größte Privatbank Indonesiens, beteiligt sind zwei Soeharto-Kinder. Wohnhaus und Fuhrpark von Sudona Salim, dem Bankchef, werden verbrannt. Es wird von volksfestartiger Stimmung berichtet. Die Sicherheitskräfte sind äußerst zurückhaltend. Aus einigen Gegenden scheinen sie völlig verschwunden zu sein. Bei den dreitägigen Riots sterben wahrscheinlich mehr als tausend Menschen, die meisten davon bei Bränden in Supermärkten und Einkaufszentren.

Es gibt Vermutungen, daß regierungsnahe Kreise die Unruhen mitinitiiert und in eine anti-chinesische Richtung gelenkt haben. Oder sogar die Kaufhäuser in Brand gesteckt haben, während drinnen noch geplündert wurde. In der Absicht, daß die Bevölkerung dermaßen schockiert ist, daß sie eine vom Militär hergestellte Ruhe und Ordnung vorzieht. Eine Menschenrechtsorganisation hat Zeugen befragt und seltsame Aspekte festgestellt, z.B. das an verschiedenen Orten Jugendliche als Anstifter mit den selben anti-chinesischen Parolen aufgetreten sind. In anderen Städten gibt es auch Riots. Auch da greifen die Truppen kaum ein.

Am 15. Mai werden die Benzinpreiserhöhungen teilweise zurückgenommen. Soeharto kehrt von einem Gipfeltreffen in Ägypten vorzeitig zurück, verspricht Neuwahlen, aber zu spät. Immer mehr seiner Unterstützer und Parteifreunde rücken von ihm ab und drängen zum Rücktritt, vor allem da für den 20. Mai Großdemos vorbereitet werden.

In Jakarta marschieren 100.000 Soldaten auf, um die Großkundgebung zu verhindern. Die wird dann auch abgesagt. Aber in Yogyakarta nehmen eine halbe Million teil, in Bandung 100.000, in Surabaya 50.000, in Solo 30.000, in Medan 20.000.

Am 18.Mai besetzen mehr als zehntausend Studenten mit Duldung des Militärs das Parlament. Sie tollen durch die Abgeordnetenbüros, machen Konfetti aus politischen Dokumenten, zerstören Tonbandaufnahmen von Parlamentsdebatten. Die Stimmung ist sehr gut. Einige machen Papierflieger aus Dokumenten und lassen sie vom Balkon fliegen. Überall wird Graffiti angebracht. Einer wird gefragt, ob dieser Vandalismus nicht ungehörig sei: "Weiß ich nicht, interessiert mich nicht!", antwortet er. In Indonesien, wo sehr viel Wert auf gutes Benehmen und Respekt gelegt wird, bedeutet das ein ganze Menge. Die Studentenführer, denen es nicht gelang, ihre Kommilitonen unter Kontrolle zu halten, waren sauer und versuchten wenigstens zu verhindern, daß der Plenarsaal besetzt wurde.

Nachdem ihn die Militärführung dringend dazu aufgefordert hat, tritt Soeharto am 21. Mai zurück. Sein Vize Habibie wird neuer Präsident. Die Studenten protestieren weiter, fordern jetzt die Absetzung Habibies. Am 22. Mai werden die letzten 2000 Besetzer aus dem Parlament geräumt, einigermaßen friedlich.

Seitdem hat das Regime einige Schönheitskorrekturen durchgeführt. Wahlen sind versprochen. Neue Parteien dürfen gegründet werden, einige Soehartoverwandte sind von ihren Posten entfernt worden, einige politische Gefangene wurden freigelassen.

Die eigentlichen Probleme bestehen weiter. Die Preise sind seit den Riots weiter gestiegen, der Preis von Speiseöl hat sich verdoppelt. Bei anderen Grundnahrungsmitteln stiegen die Preise um 20 - 70%. Mehrere Millionen haben bereits ihren Job verloren. Die Firmen schmeißen als erstes unliebsame Leute raus, vor allem Frauen. Schwangere Frauen oder Frauen, die während der Menstruation zu Hause bleiben, Streikführer. Auch Firmen, die von der Krise kaum betroffen sind, nutzen diese, um Leute zu entlassen und Löhne zu kürzen.

Der IWF hat die Kreditauszahlung storniert. Es ist ganz klar, daß das bisherige Paket nicht reicht und neu verhandelt werden muß. Und es ist ganz klar, wer bezahlen soll. Die "Wirtschaftsreformen" werden noch eine Nummer härter ausfallen. Aber diesmal sollen sie wohl etwas "sozialverträglicher" umgesetzt werden. Was nicht heißt, daß die Leute weniger leiden müssen, sondern daß sie weniger revoltieren sollen. Nicht umsonst wurde als einer der ersten der inhaftierte Gewerkschaftsführer Pakpahan freigelassen und seine bisher verbotene Gewerkschaft legalisiert.

Es bleibt spannend. Es haben wieder Riots stattgefunden. In Tanjungbalei gab es anschließend an eine Anti-Korruptions-Demo Unruhen und Plünderungen. Einige Läden und drei Bankfilialen wurden zerstört. In Jakarta haben Slumbewohner ein Grundstück besetzt, auf dem eine Soehartotochter Wohnhäuser bauen lassen wollte. Auch die Studentenproteste gehen weiter, wenn auch kleiner.

In den letzten Tagen gab es etliche Proteste gegen Korruption, bei denen teilweise Regionalparlamente besetzt wurden. In Dili, Osttimor, nahmen am 1. Juni 1500 Studenten an einem Forum für freie Rede teil, bei dem der Einfluß der Reformbewegung auf die Situation in Osttimor diskutiert wurde.

Mannheim, 3. Juni 1998

(Hardcopy in: Wildcat-Zirkular 45)


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4. Juni 1998