"Totale Reform!"

Ein paar Thesen zur Situation in Südostasien und was das für uns heißen kann

1. Das sogenannte Wirtschaftswunder in China und Südostasien beruhte auf der erfolgreichen Ausbeutung der Wünsche und Hoffnungen der Menschen.

Die letzte und dramatische Phase dieses Wirtschaftswunders hat vor ganz genau 9 Jahren angefangen: mit der Niederschlagung des Aufstandes in Beijing, bekannt unter dem Namen des Platzes, auf dem die Studenten kampierten: Tien-an-men. Seit dem haben die Menschen ihre Hoffnung auf ein besseres Leben auf den Kapitalismus gesetzt, seit dem sind viele hundert Millionen in die Städte gezogen und seitdem wird ihr Angebot an billiger Arbeitskraft vom Kapital in großem Maßstab angenommen. Auch in Indonesien ist seitdem chinesisches und südkoreanisches Kapital zugange, um die Produktion arbeitsintensiver Waren zu organisieren (Textil, Schuhe etc).

Die Wachstumsraten waren eine z.T. direkte, z.T. indirekte Folge des Klassenkampfs. Direkt, weil die Löhne und damit die Kaufkraft stiegen; indirekt, weil sie eine gesellschaftliche Dynamik auslösten und ausdrückten, die in wirtschaftliche Dynamik übersetzt werden konnte. Wenn die Leute sich Motorräder leisten können, entstehen Motorradfabriken, die aber dann einen anderen Charakter haben als die Schuhfabriken. Die Belegschaft einer Motorradfabrik hat meist eine Ausbildung oder kann wenigstens so tun als ob und sie hat gewisse Ansprüche in Bezug auf Löhne, Sozialleistungen und Arbeitsintensität. Entsprechend war auch in Indonesien die Armut nicht völlig verschwunden, aber zurückgedrängt; es ist eine wohlhabende Mittelschicht entstanden; es gibt ein relativ gutes Ausbildungssystem; es gab staatliche Sozialleistungen in Form von Subventionen usw. Und Indonesien hat nicht mehr nur Schuhfabriken...

2. Dieser Aufschwung war organisiert und gesichert durch Militärdiktaturen oder militärisch gesicherte Scheindemokratien; also Staaten, die die kapitalistischen Verkehrsformen nicht (mehr) im Griff haben.

So dynamisch die gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung war; die herrschenden Cliquen und die Staaten versuchten weiterhin so zu funktionieren, als hätten sie es mit einer stabilen Mehrheit von Landbevölkerung zu tun. Relativ kleine Cliquen organisieren das Wachstum als Wachstum ihres Reichtums und ihrer Macht, Ansprüche des Proletariats werden aufs Nötigste befriedigt, den Rest erledigt Repression. In Indonesien war und ist das besonders kraß. Zwei Beispiele: Die Familie Soeharto wird auf etwa 40 Milliarden Dollar geschätzt, also fast soviel wie das ganze Hilfspaket, das der IWF zur Rettung der indonesischen Wirtschaft versprochen hat. Oder: Man ist in Kapitalistenkreisen davon ausgegangen, daß ausländische Investoren mehr als doppelt soviel für Steuern, Abgaben, Schmiergelder ausgeben müssen wie für Löhne. Entsprechend groß waren und sind die Schwierigkeiten des IWF schon auf rein technischer Ebene: es gibt einfach keine zuverlässigen Zahlen über Indonesien.

3. Die ganze Entwicklung war eine Entwicklung auf Pump.

Fasziniert von den Zahlen und den neuen Hochhäusern in den Hauptstädten drängte sich das Kapital geradezu nach Südostasien. Vor allem europäische und asiatische Banken haben sich jetzt als die Hauptkreditgeber herausgestellt; es kam aber auch viel spekulatives Kapital, das keinen Namen hat. Man kann dies aber auch anders ausdrücken: Südostasien hat jahrelang "über seine Verhältnisse gelebt". Zum Teil haben dies die herrschenden Cliquen unproduktiv kassiert, zum Teil haben sie es zum Zwecke puren Größenwahns in wenig profitable Projekte gesteckt, zum Teil wurde es aber auch benutzt zur Besänftigung der Ansprüche der Arbeiter und der neuen Mittelschichten. Wenn ich sage, "über die Verhältnisse leben", dann meine ich das natürlich im Sinne des Kapitals. Kapital will sich verwerten, Kapital will Profite machen. Kredite sind Anweisungen auf zukünftige Arbeit und Ausbeutung; ganz egal, was damit finanziert wird, es wird erwartet, daß es morgen ein Mehr beinhaltet, das am Ende nur aus Ausbeutung kommen kann.

In dem Moment, wo dies nicht mehr gewährleistet zu sein scheint, in dem Moment werden Kredite faul, Schulden unbezahlbar, Währungen verlieren ihren Tauschwert. Die Finanzkrise in Südostasien ist genau dies: die Rache des Kapitals. Die Spekulanten haben dies zuerst ausgeführt und dabei gut am Zusammenbruch der Währungen von Thailand, Süd Korea und Indonesien verdient. Wobei eins klar ist: schon das war kein Vorgang auf der Ebene des Geldes allein, sondern in sich schon der Angriff auf die Menschen. Verloren haben sicher auch die Reichen, aber das interessiert uns nicht. Verloren haben die Leute mit einem kleinen Sparbuch, die, die entlassen worden sind, die, die sich die Schule für die Kinder nicht mehr leisten können und die, denen es kaum mehr zum Essen reicht.

4. War der Zusammenbruch der Währungen eine Folge des freien Wirkens und der Macht des Finanzkapitals, also sozusagen eine neoliberale Erscheinung, so ist der Einmarsch des IWF eine politische und staatliche Intervention, erinnert also eher an den Keynesianismus.

Immer, wenn es mit der Ausbeutung nicht richtig klappt, ruft das Kapital nach dem Staat, in diesem Fall nach dem IWF. Der IWF selber ist eine staatliche Institution und seine Maßnahmen sollen mittels der Einzelstaaten durchgeführt werden. Der IWF gibt längerfristige Kredite um kurzfristige Schulden abzudecken. Dafür verlangt er staatliche Maßnahmen, die "normale" Ausbeutungsbedingungen wieder oder überhaupt erst herstellen sollen. In Asien hat er es dabei aber mit zwei Kräften zu tun, mit denen er sich anlegen muß. Mit den herrschenden Cliquen einerseits, deren Raffgier und Kumpanei er in übliche Ausbeutungsbahnen lenken muß und andererseits mit dem Proletariat, dessen bescheidene Errungenschaften er angreift. So haben sich die Geldbürokraten das jedenfalls am Anfang vorgestellt: Bankgesetze, Bankrottgesetze, standardisierte Rechnungslegung und Aufhebung von Monopolen auf der einen Seite; Abbau von Preiskontrollen von Lebensmitteln und Aufheben von Arbeiterschutzgesetzen auf der anderen Seite.

Geholfen hat es bisher nicht. Nicht in Thailand und nicht in Süd Korea. Und schon gar nicht in Indonesien. Obwohl insgesamt schon ungefähr 40 IWF-Milliarden verbraten sind, ist kein Ende der wirtschaftlichen Talfahrt abzusehen; ja das Schlimmste kommt erst noch. Der IWF ist gescheitert und das liegt am Widerstand des Proletariats, oder anders gesagt: An der Unwilligkeit und Unfähigkeit der Herrschenden, den Angriff auf die wenigen sozialen Errungenschaften so hart und erfolgreich zu führen, wie es das Kapital gern hätte.

5. Die Geldbürokraten und die politischen Vertreter des Kapitals befürchten Revolution. Davon reden Proletariat und Arbeiterklasse noch nicht. Aber sie könnten anfangen, davon zu reden.

Wolfensohn, Chef der Weltbank, im März 98:

"Du kannst die Beziehungen zwischen einigen der Geldmenschen in Ordnung bringen. Aber wenn wir nicht weitergehen und an die Implikationen denken, die das auf den sozialen Sektor hat, haben wir nichts - außer vielleicht Revolution und soziale Unruhen."

Der IWF steht in Indonesien noch nicht in der direkten Schußlinie; dort steht immer noch das Militärregime. In dem Maße, wie der IWF auch Maßnahmen verlangt, die sich gegen den Kumpanei-Kapitalismus der herrschenden Cliquen richtet, in dem Maße sehen Teile der bürgerlichen Opposition den IWF eher als Bündnispartner denn als Gegner. Wie groß der Einfluß dieser Opposition auf die Gesellschaft und die gesellschaftliche Entwicklung allerdings ist, ist schwer abzuschätzen. Es ist nicht abzuschätzen, ob die jetzige bürgerliche Opposition in der Lage wäre, dem Proletariat über die kommenden Jahre hinweg den Verzicht aufzubürden. Die Erfahrungen aus Thailand und Süd Korea sprechen erstmal dagegen; dort ist die frühere Opposition an der Regierung. Es ist bisher auch gelungen, mit dem Versprechen auf baldige Besserung, einige Maßnahmen durchzusetzen. Aber die Geduld der Leute scheint langsam zu Ende zu gehen.

Aber Not, Elend und enttäuschte Hoffnungen allein reichen nicht, um Revolution zu machen. Notwendig ist ein Prozeß von gesellschaftlicher Diskussion, proletarischer Selbstorganisierung und von Kämpfen, auch innerhalb der proletarischen Klasse selber. Wir können hoffen, daß dieser Prozeß im Rahmen der politischen Öffnung in Indonesien vorangeht. Zur Zeit formulieren die Studenten und andere als Perspektive noch: "Totale Reform!" Die Diskussion über den Kampf gegen Ausbeutung und Arbeit, über Alternativen zum Kapitalismus, über den Weg dorthin, diese Diskussion steht wieder auf der Tagesordnung. In Südostasien und hier eigentlich auch.

6. Die Krise ist nicht nur nicht vorbei, sondern hat möglicherweise noch gar nicht richtig begonnen.

Das gilt für Indonesien, dessen offizielle Ökonomie im Moment schlicht zusammengebrochen ist. Das gilt für Asien, wo die Währung Chinas unter großem Abwertungsdruck steht und man eigentlich auf einen spekulativen Angriff wartet. Das wäre dann auch für den IWF eine Nummer zu groß.

Ich will nicht spekulieren über eine Welt-Geldkrise oder eine Welt-Finanzkrise. Die Sache in Südostasien ist auf dieser Ebene bisher relativ easy austariert worden. Aber: der Kapitalismus steht wieder in Rede und das ist das Verdienst der Arbeiterklasse, die in Südostasien seine Bedingungen zurückgewiesen hat.

7. Für uns bedeutet das:

a) Nicht mehr der Globalisierungspropaganda des Kapitals aufsitzen. Wie hat man bei uns den Standort Südostasien gelobt und mit Auslagerung gedroht... Ja die Kapitalisten hätten das gerne, daß sie von der einen wenig produktiven oder aufsässigen nationalen Arbeiterklasse zur anderen fliehen könnten, aber das funktioniert nicht, oder nicht lange. Wir glauben nicht mehr an das Standort-Geschwätz!

b) Die Globalisierung gegen Unterdrückung und Ausbeutung vorantreiben! Dazu gehört zuallererst die Erkenntnis, daß die weltweite Zurückweisung von zuviel Ausbeutung hinter der verzweifelten Suche des Kapitals nach neuen Möglichkeiten der Verwertung steckt. Daß es die aber immer nur vorübergehend finden. Wir sind Täter und nicht Opfer der "Globalisierung". Daraus folgt: für einen weltweiten Horizont in der linken und proletarischen Debatte kämpfen!

c) Und das heißt im Moment natürlich: Die Frage nach der Revolution ­ revolusi ­ aufnehmen und wieder in die gesellschaftliche Debatte bringen. Wir dürfen diese Frage nicht den Chefs der Weltbank und den Militärs in Jakarta überlassen!

Vortrag auf der Indonesienveranstaltung von Welt in Umwälzung, Mannheim 3.6.98


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Eine Webseite von WELT IN UMWÄLZUNG Mannheim-Ludwigshafen

4. Juni 1998